Das Ermittlungsverfahren
© RA Mathias Noll 2018
1. Abschnitt - Ermittlungsverfahren -
Das Ermittlungsverfahren, auch Vorverfahren genannt, beginnt regelmäßig
mit einem Anfangsverdacht. Sei es von der Polizei oder aber der örtlich
zuständige Staatsanwaltschaft. Dabei geht es nach dem Tatortprinzip.
Gemäß § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft (sogar) verpflichtet,
wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende
tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.
I. Grundsätzliches
1. Die Staatsanwaltschaft hat gemäß § 160 Abs. 1 StPO im Rahmen eben jenen Ermittlungsverfahrens „zu ihrer
Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen“, sobald sie „durch eine
Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält”.
Der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erforderliche „Anfangsverdacht” liegt gemäß § 152 Abs. 2 StPO vor,
wenn „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte” für eine „verfolgbare Straftat” vorhanden sind. Die Prüfung des
Anfangsverdachts hat somit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu erfolgen.
2. Jeder Staatsanwalt muss sich bewusst sein, dass bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für den davon
Betroffenen eine erhebliche Belastung darstellen kann. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass aus rechtlicher
Sicht ein Ermittlungsverfahren wegen der Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 Abs. 2 MRK) nicht als ein Makel des
Betroffenen anzusehen ist. Die Annahme eines Anfangsverdachts setzt deshalb eine sorgfältige Prüfung voraus und
kann der gerichtlichen Überprüfung in einem Amtshaftungsprozess unterliegen. So stellt die Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens dann eine Amtspflichtverletzung dar, wenn diese Entscheidung nicht mehr vertretbar, d.h. bei
voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Strafverfolgung nicht mehr verständlich ist (BVerfG NJW
1984, 1452; BGH NStZ 1988, 511).
...
II. Gegenstand der Prüfung
Die besondere Prüfung eines Anfangsverdachts ist vor allem bei unmittelbar bei der Staatsanwaltschaft eingehenden
Strafanzeigen von Privatpersonen veranlasst. Im Übrigen kann es einer derartigen Prüfung insbesondere aufgrund von
Medienveröffentlichungen bedürfen (sh. auch unter II. meiner Rundverfügung vom 23. September 1996, JMBl. Bbg.,
128 f). Gehen indes Anzeigen von Amts wegen von der Polizei bei der Staatsanwaltschaft ein und ist dem Vorgang zu
entnehmen, dass ein Polizeibeamter als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft auf der Grundlage des § 163 Abs. 1 StPO
bereits einen Anfangsverdacht bejaht und Ermittlungen durchgeführt hat, ist es dem nun mit der Sache befassten
Staatsanwalt verwehrt, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Vielmehr hat er das bereits eingeleitete
Ermittlungsverfahren unverzüglich gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts einzustellen, falls er
bereits einen Anfangsverdacht verneint hätte.
III. Registermäßige Behandlung der Prüfungsvorgänge
Entgegen einer verbreiteten Vorstellung ist mit der Eintragung in das sogenannte Js-Register nicht notwendig die
Annahme eines Anfangsverdachts verbunden. Dies folgt aus § 47 Nr. 1. b) der Aktenordnung (AktOBbg), wonach
sämtliche, d.h. auch offensichtlich unbegründete, „eingehende Anzeigen, die sich gegen bestimmte Personen richten” in
das Js-Register einzutragen sind. Bieten Strafanzeigen Anlass, bereits die Frage des Anfangsverdachts besonders zu
prüfen, ist während dieser Prüfung von einer „Anzeigesache” und erst nach daraufhin erfolgter Annahme eines
Anfangsverdachts von einem „Ermittlungsverfahren” zu sprechen.
...
IV. Verfahrensweise bei der Prüfung
1. Der Staatsanwalt hat bei der Prüfung eines Anfangsverdachts zunächst festzustellen, ob überhaupt eine Straftat, also
eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlung vorliegen könnte, und sodann zu klären, ob diese
auch verfolgbar wäre, d.h. keine persönlichen Strafausschließungsgründe und Verfahrenshindernisse vorliegen. Die
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens hat zu unterbleiben, wenn ein Element der „verfolgbaren Straftat” offensichtlich
fehlt.
2. Bei seiner Entscheidung über das Vorliegen eines Anfangsverdachts wegen einer Straftat hat der Staatsanwalt nach
höchstrichterlicher Rechtssprechung (BGH NStZ 1988, 511) alle hierfür wesentlichen be- und entlastenden
Umstände in Gestalt einer Gesamtschau abzuwägen. Deren Ergebnis hängt maßgeblich davon ab, welche Umstände
der Staatsanwalt für wesentlich hält und welches Gewicht er den in die Abwägung einfließenden sachverhaltselementen
in ihrem Verhältnis beimisst. Da auch subjektive Wertungen in diese Abwägung einfließen, können verschiedene
Betrachter zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ohne pflichtwidrig zu handeln.
Deshalb gewährt die höchstrichterliche Rechtsprechung dem mit der Sache befassten Staatsanwalt bei der
Entscheidung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens einen Spielraum bei der Würdigung und eine gewisse
Freiheit bei der Bildung seiner Auffassung. Er verfügt danach über einen Beurteilungsspielraum bei der Beantwortung
der Frage, ob ein Verdacht wegen einer Straftat „zureichend” im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO ist. Wird dieser
Beurteilungsspielraum aber missbräuchlich genutzt, kann dies den Grundsatz des fairen Verfahrens verletzen
(sh. I.3).
3. An die Annahme des Anfangsverdachts dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden, weil die
Erforschung des Sachverhalts gerade die Aufgabe des Ermittlungsverfahrens ist (sh. I.1). So braucht der
Anfangsverdacht weder dringend noch hinreichend zu sein (vgl. OLG München NStZ 1985, 550). Andererseits hat der
Bürger aber einen Anspruch darauf, dass aus der Luft gegriffene Vorwürfe nicht schon zur Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens führen, sondern der Staatsanwalt in diesen Fällen bereits einen Anfangsverdacht verneint (sh.
I.2). Daher reichen bloße Vermutungen oder kriminalistische Hypothesen nicht aus, ein Ermittlungsverfahren
einzuleiten. Vielmehr muss der Anfangsverdacht auf konkreten Tatsachen beruhen (vgl. OLG Hamburg GA 1984, 289
f.).
4. In der der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vorgeordneten Phase sind informatorische, formlose Befragungen
zur Gewinnung eines groben Bildes, ob wirklich der Verdacht einer Straftat besteht und wer als Beschuldigter oder
Zeuge in Betracht kommt, zulässig. Nicht zulässig sind allerdings informatorische Befragungen im Rahmen eines
Überprüfungsvorgangs, obwohl tatsächlich bereits ein Anfangsverdacht besteht und förmliche Vernehmungen im
Rahmen eines einzuleitenden Ermittlungsverfahrens hätten erfolgen müssen.
5. Im Rahmen der Prüfung, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten oder von dessen Einleitung abzusehen ist, hat der
Staatsanwalt ihm freiwillig zur Verfügung gestellte Unterlagen auszuwerten und kann zur Erweiterung seiner
Beurteilungsgrundlage auch allgemein zugängliche oder in amtlicher Verwahrung befindliche Unterlagen oder Akten
beiziehen. Falls angeforderte Unterlagen oder Akten nicht freiwillig herausgegeben werden, ist diese Entscheidung auf
der verbleibenden Tatsachengrundlage zu treffen. Die Anwendung irgendwelcher Zwangsmittel ist bei der
Prüfung des Anfangsverdachts nicht zulässig.
6. Kommt der Staatsanwalt zu dem Ergebnis, dass ein Anfangsverdacht wegen einer Straftat besteht, hat er weiter zu
klären, ob diese auch verfolgbar wäre. So hat die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens etwa zu unterbleiben, wenn die
angezeigte Straftat mit Sicherheit verjährt ist.
In einem zu erteilenden Bescheid ist der Anzeigestatter darauf hinzuweisen, dass sich Ermittlungen verbieten, ob die
behauptete Straftat tatsächlich begangen worden ist, wenn diese gegebenenfalls nicht mehr verfolgt werden könnte.
Weiter ist ein Anfangsverdacht zu verneinen, wenn sich bereits aus der Anzeige ergibt, dass die Strafantragsfrist für
alle Antragsberechtigten verstrichen ist oder wenn sich die Strafanzeige gegen ein Kind richtet, bei dem das
unbehebbare Verfahrenshindernis der Strafunmündigkeit nach § 19 StGB besteht.
Falls die Straftat nur auf Antrag verfolgbar und diese oder das Antragserfordernis den Antragsberechtigten offenbar
noch unbekannt ist, hat der Staatsanwalt auf die Beseitigung dieses behebbaren Verfahrenshindernisses hinzuwirken,
wenn er eine Strafverfolgung im öffentlichen Interesse für geboten hält (vgl. Nr. 6 Abs. 2 RiStBV).
Steht der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen einen Abgeordneten das behebbare Verfahrenshindernis der
Immunität entgegen, was bei Abgeordneten des Landtages Brandenburg nicht der Fall ist (sh. Art. 58 Bbg.Verf.,
Immunitätsrichtlinie, GVBl. Bbg. I 1998, 436), sind § 152a StPO und Nrn. 191 ff RiStBV zu beachten.
V. Abschluss der Prüfung
Wird der Anfangsverdacht im Falle seiner besonderen Prüfung durch die Staatsanwaltschaft verneint, ist aktenkundig zu
machen, dass von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mangels zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für
eine verfolgbare Straftat abgesehen wird (§ 152 Abs. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO); liegt der Prüfung eine Strafanzeige
zugrunde, ist der Anzeigeerstatter aus der „Anzeigesache” entsprechend zu bescheiden.
Wird der Anfangsverdacht hingegen bejaht, sollte dies im Fall einer vorangegangenen besonderen Prüfung ebenfalls
aktenkundig gemacht werden; ist diese Prüfung in einem AR-Vorgang erfolgt, hat gemäß § 47 Nr. 1. c), 5. AktOBbg die
Umtragung in das Js-Register zu erfolgen (sh. III.).
Auszug aus den Richtlinien für die Prüfung eines Anfangsverdachts wegen einer Straftat (Rundverfügung des
Generalstaatsanwaltes des Landes Brandenburg vom 21. August 1998 – 411-40 -, in der Fassung vom 10. Dezember
2008) veröffentlicht unter www.gsta.brandenburg.de/media_fast/4140/Anfangsverdacht.pdf